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  Paris-Brest-Paris
 
DARK SIDE
OF
PARADISE
 
 
Paris-Brest-Paris 1995
 
 
Paris-Brest-Paris findet nur alle vier Jahre statt, hat schon eine über hundertjährige Tradition und wird vom A.C.P. und dem Randonneur Mondiaux veranstaltet.
Die Streckenlänge beträgt 1230 Kilometer und dabei sind rund 10.000 Höhenmeter zu überwinden.
Österreich musste erst dieser Organisation beitreten um die Qualifikationsbewerbe im eigenen Land abhalten zu können. Diese Qualifikation, genannt Brevet, besteht aus vier Distanzen über 200, 300, 400 und 600 Kilometern die in einem vorgeschriebenen Zeitlimit bewältigt werden müssen.
Nach Ablauf einer zweijährigen Probezeit und nach erfolgreicher Abhaltung dieser Brevets, ist Österreich seit 1996 ein vollwertiges Mitglied der Randonneur Mondiaux.
 
Mit dem folgenden Bericht möchte ich meine Eindrücke und Erlebnisse, die ich während dieser Veranstaltung gesammelt habe, für mich bewahren und all jenen die diese Geschichte lesen, eine außerordentliche Veranstaltung näher bringen.
 
Es ist Dienstag der 22. August 3 Uhr am Morgen, als mich der Wecker endlich von dieser Nacht erlöst. Ich schlage die Augen auf und fühle mich befreit. Befreit von einem Jahr der Vorbereitungen und Planungen, befreit von allen Entbehrungen, die ich in diesem Zeitraum auf mich genommen habe und befreit von einer Nacht, die mit ihrer nicht enden wollenden Finsternis versuchte mich zu fesseln. Mir wird schlagartig bewusst, dass nach den nächsten drei Tagen für mich nichts mehr so sein wird, wie es war.
 
In zwei Stunden werde ich, mit der letzte Gruppe, in den längsten Radmarathon Europas starten. Mit mir suchen acht weitere Österreicher, in dem dreieinhalbtausend umfassenden Starterfeld, ihre Herausforderung. Vier von ihnen sind schon seit gestern Abend im Bewerb, darunter ein Tandem, das sich große Hoffnungen auf den Sieg macht.
 
Ich peile eine Zeit unter sechzig Stunden an und habe dafür zu ersten Mal auch eine sportmedizinische Unterstützung in Anspruch genommen und mich intensiv mit autogenem Training befasst.
 
Beim Frühstück treffe ich die Anderen. Stefan, Thomas und Michi haben sich gemeinsam ein Wohnmobil gemietet, mit dem sie auch angereist sind und wollen sich von Stefans Bruder und einem Freund unterwegs verpflegen lassen.
Weiters am Tisch Martin, der noch immer nicht so genau weiß wie er es angehen soll und Bernd, ein Freund aus Deutschland, der schon die Qualifikation in Österreich gefahren ist. Auch er wird von seiner Freundin mit einem Wohnmobil begleitet.
Ich wollte auf der Strecke unabhängig sei und so verpackte ich meine, vermeintlich unbedingt notwendigen Power-, High Energy-, Super-Drüber Überlebensriegel in verschiedene Kartons um sie mir auf den Kontrollstellen hinterlegen zu lassen.
 
Eine eigenartige Spannung aus Euphorie, Angst und Depression sprang von einem zum andern. Keiner von uns ist bisher mehr als 600 Km am Stück gefahren. Das Fragezeichen, das über all den Unbekannten schwebte, war einfach zu groß und unabschätzbar.
Wie weit 1200 Kilometer wirklich sind wusste ich von der Anreise. Wien – Paris und das mit dem Auto. Ich bin es nicht durchgefahren sondern habe übernachtet. Jetzt das ganze mit dem Rad?
Das beste Mittel in einer solchen Situation ist, sich auf das Wesentliche zu konsentrieren. Der RAAM Teilnehmer Klaus Hätzel beschreibt das so.
„Nie den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Die einzige Kurbelumdrehung die zählt, ist die, die jetzt dran ist. Mach sie so hingebungsvoll und so gut du kannst. Dann wiederhole sie, bis sie ein Teil von dir ist, so leicht und selbstverständlich wie dein Atem. Vergiß die vorangegangene Umdrehung und denk nicht an die kommende. Tu das tausende Male, als ob es das einzige und letzte Mal ist – und du bist am Ziel.“
 
Diese Worte las ich unzählige Male, denn sie sollen der Schlüssel für mich sein, der mich eine solche Herausforderung, bewältigen lässt.
So wurden sie zur These und zu einer formelhaften Vorsatzbildung in meinem autogenem Training „ Meine Beine treten bis ich wieder in Paris bin!“
   
Die Spannung erhöht sich auf dem Weg zum Startgelände noch um ein Vielfaches. Es ist 4.30 Uhr, stockfinster und bitter kalt. Auf dem Gelände des Gymnasiums von Saint Quentin bekommen wir die erste Eintragung in unsere Kontrollkarte. Verloren wirkt dieser erste Stempel, auch dies ein Zeichen, wie weiter dieser Weg ist, bis ich in den gleichen Räumlichkeiten den letzten erhalten werde.
Vierzehn Stationen behaftet mit Ungewissheit liegen dazwischen. Ich schließe die Karte und bahne mir mit den Anderen einen Weg zum Start. Es fällt mir immer schwerer meine Gedanken zu ordnen und die Angst in die richtigen Kanäle zu leiten.
Ich versuch mir die positiven Dinge in Erinnerung zu rufen, in dem ich daran denke, dass es schließlich mein Traum war an diesem Rennen teilzunehmen.
Vor rund eineinhalb Jahren war ich beim deutschen Veranstalter der Brevets, dieser überredete mich, Randonneur Autriche zu gründen, um selbst die Qualifikation auszutragen.



zu können. Keiner kann sich wirklich vorstellen wie viel Arbeit es war, um aus dem Nichts, die Qualifikationen korrekt durchführen zu können.
 
An dieser Stelle möchte ich zwei Frauen danken, ohne die es nicht so gut funktioniert hätte. Waltraud Schreder hatte mir die ganze Korrespondenz mit den Franzosen erledigt, da diese nicht bereit sind die Aussendungen in deutsch oder englisch zu formulieren.
Die größte Belastung hatte aber meine Freundin zu tragen. Nicht nur, dass ich unzählige Stunden auf dem Rad verbracht hatte, half sie auch noch bei den Brevets mit.
Es ist ein gemeinsamer Erfolg, dass außer mir noch acht weitere Österreicher am Start sind.
 
Für mich als Organisator, ist es schon fast Pflicht, dieses Rennen so gut und schnell als nur möglich zu beenden.
  
 Sportlich gibt es in dieser Mannschaft einige, denen ich nicht das Wasser reichen kann, aber es gibt keine Rivalität oder Neidgefühle, denn im Prinzip hat man bei einem solchen Rennen viele Freunde aber nur einen Gegner. Sich selbst!
 
Plötzlich ertönt der Startschuss, wir können uns nur noch rasch die Hände schütteln und alles Gute wünschen, denn im nächsten Augenblick spült uns die Welle der startenden Fahrer in das größte und längste Abenteuer, das wir je zu bestehen hatten.
 
Auf den ersten Kilometern fahren wir durch Vororte von Paris, meist auf verwinkelten Straßenzügen und unübersichtlichen Abschnitten. Sofort beginnen meine Alarmglocken zu klingeln, denn es ist äußerst gefährlich in diesem großen Pulk, der sich mit enormer Geschwindigkeit durch die engen Gassen drängt. Es bedarf größter Konzentration um nicht in einen Sturz verwickelt zu werden. Die Situation wird noch verschärft als wir die beleuchteten gebiete verlassen und uns auf dunklen Pfaden durchschlagen müssen. Es ist wie in einem Ausscheidungsrennen. Laufend passieren Stürze und wir können von Glück sprechen, dass wir in keinen Verwickelt werden.
Die Taktik ist darauf ausgerichtet so weit als möglich vorne zu fahren, zumindest in Sichtweite der Spitze um an den Anstiegen etwas Tempo rausnehmen zu können ohne aus dem Pulk zu rutschen um sich dann in den Flachstücken wieder vorne einzureihen.
Dieses Spiel wiederholt sich etliche Male und so können wir weit unter unseren maximalen Pulswerten fahren und halten uns aus den gefährlichen Plänkeleien am Ende des Feldes heraus.
Ich bemerke einen schlaksigen, auf dem Rad dahin wippenden Fahrer, dessen Fahrstil mir bekannt vorkommt, denn er ist mir schon bei den Qualirennen aufgefallen. Es ist Bruno Heer aus der Schweiz. Er fährt also tatsächlich mit. Erst vor vierzehn Tagen hat er das „Race Across Amerika“ als Sechstplazierter beendet. Wir plaudern einige Zeit miteinander und ich habe nicht den Eindruck, dass er merklich gezeichnet wäre. Im Gegenteil, Bruno möchte auch unter sechzig Stunden fahren und das traue ich ihm ohne weiteres zu.
Später erzählte mir eine Amerikanerin, dass Bruno in der zweiten Nacht große Probleme hatte und sich einige Stunden ausruhen musste und somit sein Ziel nicht ganz erreichen konnte. Ich bin mir aber sicher, dass er das, mit dem für Schweizer typischen Humor, bald weggesteckt hat und schon von seinen nächsten Plänen spricht.
Bruno Heer ist sicherlich einer der ganz Großen im Langstreckensport, nicht nur sportlich sondern durch seine besonders menschliche Art.
 
9 Uhr 34; Montagne au Perche, nach 146 Kilometern die erste Verpflegung. Die drei, Stefan, Thomas und Michi hetzen um das Wohnmobil, so dass ich mir denke, es besser ist ihnen aus dem Weg zu gehen. Ich suche mir ein ruhiges Plätzchen zum pinkeln. Wieder zurück, sehe ich gerade noch ihre Hinterräder und weiß, dass dies für die nächsten Tage wahrscheinlich das letzte ist, was ich von ihnen zu sehen bekomme. In Gedanken wünsch ich ihnen alles Gute.
 
Ich hole mir meinen Camelbak aus dem Wagen, somit habe ich nun 3,5 Liter Flüssigkeit bei mir. An Durst sollte ich also nicht leiden. Martin ist die Vernunft eingeschossen und er übersiedelt mit seinen Sachen in das Wohnmobil von Bernd, der von Anfang an eine gemäßigtere Marschroute eingeschlagen hat.
   
 Ich mach mich wieder auf den Weg. Die Hektik der ersten Stunden ist wie weggeblasen und ich kann mich auf meine vorgegebenen Pulswerte konzentrieren und mit den vielen Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, beschäftigen.
Die letzten Wochen waren geprägt durch hartes Training und von einigen, denen ich von meinem Vorhaben erzählte, erntete ich nicht nur Bewunderung, sondern meistens kopfschüttelndes Unverständnis. Ich bewegte mich außerhalb der Norm und damit können manche Menschen einfach nicht umgehen. Hier bin ich einer von dreitausend, die alle nur ein Ziel vor Augen haben, nämlich dieses zu erreichen.





Niemand hier fragt nach dem „Warum“ aber allen die immer alles hinterfragen müssen habe ich eine Antwort. „So ein Rennen, über eine solche Distanz, hat keinen Sinn – aber für jeden einzelnen eine andere Bedeutung!“
 
11 Uhr 45. Die noch zurückzulegende Kilometerzahl ist Dreistellig. Hurra! Nur noch
999 Kilometer. Diese Feststellung dient natürlich nur der Psyche, aber in einem solchen Fall braucht man einfach kleine Hilfsmittel um sich abzulenken.
 
Eine Stunde später erreiche ich die erste Kontrollstelle in Villaines la Juhel. Jetzt wird sich zeigen ob mein Packet wirklich hinterlegt wurde und es auch möglich ist es zu finden.
Ein großes Lob an die Burschen. Einer der Kontrollore erkennt mich an der Startnummer und macht mich auf den hinterlegten Karton aufmerksam. Auch bei den Weiteren Stationen gab es keine Probleme und somit hat sich dieses System voll bewehrt.
Für die Zubereitung der Getränke benötige ich Wasser. Um kein Risiko einzugehen kaufe ich immer abgefülltes. Hier muss ich feststellen, dass es ziemlich viel Zeit in Anspruch nimmt, sich selbst zu versorgen. Ich versuche ein Ritual zu entwerfen um keine Zeit zu vergeuden.
    
Das erste an jeder Kontrollstelle ist, dass ich mir die Radschuhe ausziehe und alle Wege barfuss zurücklege. Damit verhindere ich, dass die Zehen einschlafen. Es schmerzt zwar fürchterlich wenn ich auf einen Stein trete, das hat aber den Vorteil, dass die üblichen Druckstellenschmerzen einfach abgelöst werden und keine Monotonie sich breit machen kann.
Beim füllen der Flaschen ist genug Zeit um einige Dehnungsübungen zu zelebrieren. Die komischen Figuren rufen bei so manchen Herumstehenden Verwunderung hervor, ich bin aber davon überzeugt, dass uns die meisten sowieso für nicht ganz „Dicht“ halten.
 
Gestärkt mache ich mich um 13 Uhr 05 wieder auf den Weg. Die nächste Kontrollstelle liegt 85 Kilometer gegen Westen. Der Schnitt beträgt bisher 29,59 Km/h.
Wie ich schon in den letzten Tagen feststellen musste, wird die stechende Hitze erst am Nachmittag so richtig unerträglich. Mein Computer zeigt mir 38 Grad in der Sonne, zum Glück kühlt der Fahrtwind etwas.
 
Seit einiger Zeit fahre ich einer größeren Gruppe von Franzosen, deren Chef schon das fünfte Mal am PBP teilnimmt. Er ist auch der einzige, der mit mir spricht. Bei den Anderen habe ich das Gefühl, dass sie mich zwar verstehen, mich aber nur ausnahmsweise in der Gruppe dulden.
Kinder stehen am Straßenrand und reichen uns Flaschen mit Wasser – eine willkommene Abkühlung. Die Flaschen wandern von vorne nach hinten, auch ich bekomme sie gereicht. Sollte ich sie doch falsch eingeschätzt haben?
Ein Guss in den Nacken und das kalte Wasser läuft mir über den Rücken. Für einige Augenblicke habe ich das Gefühl in einen angenehm temperierten Pool gesprungen zu sein. Mein Körper dankt mir diese Ablenkung mit einem Wohlgefühl, das sich nur mit dem kuscheln unter einen Daunentuchent vergleichen lässt.
Die Nachmittagshitze wird so einigermaßen erträglich. Um 16 Uhr 19 erreichen wir in Fougere die nächste Kontrollstelle. 
Obwohl ich diesmal nur 20 Minuten benötige um mich für die nächsten 57 Kilometer vorzubereiten, sind die Franzosen noch schneller und ich verlasse Fougere als Solofahrer.
Nach wenigen Kilometern werde ich eingeholt und aus dieser Begegnung wird eine Freundschaft entstehen die uns wahrscheinlich unser restliches Leben begleiten wird.
Ich stelle fest, dass Amerikaner und Australier schon im zweiten Satz nach deinem Namen fragen. Somit weiß auch ich, dass mein neuer Freund aus Australien stammt und sein Name Malcolm ist. Wir verplaudern die nächsten Kilometer und obwohl wir jeder aus einem anderen Winkel der Erde kommen, verbindet uns dieser Sport. Mit einem 27er Schnitt erreichen wir Tinteniac, wo sich vorerst unsere Wege trennen.
 
Kurz nach 19 Uhr schwing ich mich wieder in den Sattel und muss sofort Tempo machen, denn vor mir erkenne ich die Gruppe Franzosen, mit denen ich schon eine zeit gefahren bin. Gemeinsam fahren wir der untergehenden Sonne entgegen. Die Schatten werden immer länger und es scheint als kämpfen sie gegen das Unvermeidliche, bis sie dann doch der hereinbrechenden Nacht weichen müssen. Vorerst muss ich noch mit der Lampe, die am Rahmen montiert ist auskommen, da ich die Stirnlampe erst in Loudeac ausfassen kann.
Es ist 22 Uhr 32 als ich dort ankomme. Ich versuche alles so schnell als möglich durchzuziehen.
   
Kontrollkarte abstempeln lassen, Wasser kaufen, Getränke mixen, Verpflegung verstauen, Rahmen und Helmlampe mit neuen Batterien bestücken, war anziehen. Punkt 23 Uhr sitze ich wieder auf dem Rad und strample in die Nacht.
 
Ich muss an den Kontrollstellen noch effizienter handeln, denn mein Schnitt ist nun erstmals unter 28 Km/h gesunken. Mein Plan sieht vor einen Schnitt von 25 KM/h zu fahren und nicht mehr als 10 Stunden Stehzeit zu benötigen um auf eine Endzeit von 60 Stunden zu kommen.
 
Es sind nur noch wenige Fahrer unterwegs, die meisten legen eine Schlafpause ein. Auch das Rad von Malcolm habe ich am Eingang der Turnhalle, wo sich die Schlafplätze befinden, gesehen.
So lasse ich die Lichter der Stadt hinter mir und fahre alleine in die Finsternis.
Ich bin froh, dass ich nach dem 400 Km Brevet, bei dem ich zum ersten Mal in der Nacht gefahren bin und mir die Mängel an meiner Ausrüstung brutalst vor Augen geführt wurde, die Ausrüstung komplett gewechselt und erneuert habe.
Zwei Petzel Stirnlampen, verstärkt mit Halogenlampen, bestückt mit 4,5 Volt Flachbatterien, die uns von der Firma Duracell zur Verfügung gestellt wurden. Eine davon am Rahmen montiert, die zweite am Helm, damit das Licht überall dort ist wo ich es brauche, besonders in den Kurven.
Trotzdem ist es unheimlich und ich beginne leise zu singen um die aufkommenden Ängste zu beseitigen. Dieses Angstgefühl ist wahrscheinlich der Vorbote meines körperlichen Einbruches der mich kurz nach Mitternacht aus dem Sattel holt. In irgendeiner kleinen Ortschaft bleibe ich stehen und lasse mein Entspannungsprogramm ablaufen.
Danach bemerke ich erst, dass hier weitere Gestalten, zum Teil eingehüllt in Thermofolien, herumliegen und scheinbar schlafen.
Ich hätte wohl an der letzten Kontrollstelle etwas Warmes essen sollen, als um jeden Preis weiter zu hetzen.
Es bewahrheitet sich wieder einmal das Sprichwort, „die meiste Zeit verliert man beim Versuch zeit zu gewinnen!“
Nach rund 20 Minuten setze ich meine Fahrt durch die Nacht fort. Es ist verdammt kalt geworden. In den letzten Stunden ist die Temperatur um 27 Grad gesunken. Die Uhr, der Radcomputer und die Lampen sind angelaufen und auch komme nur langsam wieder auf Betriebstemperatur.
Es sind noch gut 40 Kilometer bis Carhaix. Aber schneller als erwartet komme ich dort an. Ich verspreche mir die Zeit zu nehmen anständig zu essen, denn ich möchte mich nicht nochmals in so eine Situation bringen.
Ein halbes Huhn mit Nudeln und danach eine große Tasse schwarzen Kaffee, wecken meine Lebensgeister wieder. Mit 46 Minuten fällt diese Pause dann auch gewaltig aus. Die letzte Etappe bis zur Wende in Brest liegt vor mir. Die Küstennähe beschert nun richtig dichten Nebel.
Um 5 Uhr wird es Zeit ein kleines Zwischenresümee zu ziehen. Ich bin nun 24 Stunden unterwegs, habe 548 Kilometer zurückgelegt. Viel weniger als ich geplant hatte. Die reine Fahrzeit beträgt 21,16 Stunden, das heißt insgesamt habe ich 2,44 Stunden pausiert und der Schnitt beträgt nur noch 25,76 Km/h.



Bei diesem Tempo darf ich also noch rund 7 Stunden an Pausen einlegen. 
Das Gelände wird nochmals schwieriger. Über 20 Kilometer zieht sich der Anstieg auf den Col de Tredudon, den höchsten Punkt dieser Tour. Zwar nur läppische 361 Meter hoch, aber der kaum merkliche Anstieg und die schwindenden Kräfte, machen ihn zu einem richtigen Berg. Oben angekommen, - eine geheime Kontrollstelle. An den Durchgangslisten muss ich feststellen, dass Michi, Stefan und Thomas fast vier Stunden vor mir hier durchgekommen sind.
  
Der Nebel wird immer schlimmer und bei der Abfahrt wird es richtig gefährlich. Die Brille ist vollkommen angelaufen, um überhaupt etwas zu sehen, muss ich sie abnehmen. Die müden Augen werden nun nicht nur geblendet, sondern auch noch dem Fahrtwind und der Kälte ausgesetzt. Aus Angst mir eine Entzündung zu holen setzte ich die Brille wieder auf, was einem Blindflug gleich kommt. Die richtige Mischung für eine mittlere Katastrophe.
Erst als ich an eine Kreuzung komme an der ich keine Richtungspfeile finde wird mir bewusst, dass ich mich verfahren habe.
Noch nie in meinem Leben habe ich mich so verlassen gefühlt. Nach den schlimmsten Flüchen und den wüstesten Beschimpfungen, die ich mir in einer Art Selbstgeißelung aus der Seele schreie, versuche ich wieder klare Gedanken zu fassen. Kurz quält mich sogar der Gedanke ans Aufgeben, da ich aber hier mitten im Nirgendwo bin, würde dies meine Lage nicht verbessern. Ich kann es nicht fassen. Endlich ist die Nacht mit all ihren Ängsten überstanden und im Morgengrauen keimte neue Hoffnung auf, dass mit den ersten Sonnenstrahlen wieder alles leichter werden würde – und dann diese Endtäuschung.
 
Die letzten Kilometer bin ich nur Bergab gefahren. Ich sehe daher keinen Sinn den Weg wieder zurück zu fahren, denn Brest liegt am Meer und so tief bin ich noch nicht. Doch der Autofahrer den ich aufhielt zeigt genau in diese Richtung. Nur widerwillig setzte ich mich in Bewegung, ich hadere noch immer mit meiner Dummheit. Die ersten Kurbeltritte Bergauf tun noch dazu verdammt weh. Nach zwei Kilometern treffe ich einen Bauern der mit seinem Traktor die Jauche aufs Feld bringt. Ich weiß nicht warum, frage aber nochmals nach dem Weg. Seine Antwort stürzt mich in ein noch größeres Dilemma, er zeigt wieder Bergab.
Wem soll ich nun glauben? Er bemerkt meinen Zweifel und wild gestikulierend zeigt er in die Richtung aus der ich komme. Mir ist die Möglichkeit wieder nach unten zu fahren nicht unrecht und Brest muss weiter unten liegen. Also wieder retour und nach zirka einer Stunde sehe ich an einer Kreuzung Radfahrer und finde durch viel Glück wieder den richtigen Weg.
 
Kurz vor dem Kontrollpunkt höre ich eine vertraute Stimme hinter mir. Es war Malcolm. Er hat in Carhaix eine Stunde geschlafen und ist daher voller Tatendrang. Für mich ist es außerordentlich Wichtig mit jemanden über mein Missgeschick zu sprechen, sozusagen den Frust von der Seele reden.
Gemeinsam erreichen wir die Kontrolle in Brest, es ist 9 Uhr 11. Ich habe also mehr als eine Stunde verloren, doch diese Sache ist jetzt nicht mehr wichtig. Die Hälfte der Strecke ist zurückgelegt, ab jetzt bedeutet jede Kurbelumdrehung, dass ich dem Ziel näher komme.




Jetzt heißt es sich neu zu organisieren. Die Stirnlampe montiere ich verkehrt auf dem Helm um Nackenschmerzen vorzubeugen. Die Batterietasche findet unter dem Sattel platz und den Rest verstaue ich in meinen Trikottaschen. Bis zu den nächsten Batterien sind es rund 240 Kilometer und wenn ich Tinteniac, vor Einbruch der Dunkelheit erreichen möchte, sollte ich keine zeit mehr verlieren.
Zehn Minuten vor zehn verlassen wir Brest und machen uns auf den Rückweg. Meine derzeitige Hochrechnung lässt die Vermutung aufkommen, dass ich es nicht in 60 Stunden schaffen werde. Die Motivation ist in Ordnung und die Gedanken schweifen ab zu dem Rennen Trondheim Oslo über 550 Kilometer, die ich in zwanzig Stunden schaffen wollte und dieses Ziel um zwei Minuten versäumt hatte. Was wären zwei Minuten auf 1200 Kilometer?
   
Schon nach wenigen Kilometern muss ich feststellen, dass Malcolm einfach ausgeruhter ist, denn er drückt sichtlich aufs Tempo. Natürlich drängt sich jetzt die Frage auf, ob schlafen nicht doch die bessere Lösung gewesen wäre.
Aber auch dies ist eine Herausforderung die ich angenommen habe. Ich möchte diesen Bewerb zu Ende bringen, ohne zu schlafen. Ich habe mich mit Autogenem Training doch monatelang darauf vorbereitet und damit werde ich es auch schaffen.
Ich beschließe in Carhaix mir Zeit zu nehmen um das ganze Trainingsprogramm anzuwenden. Bis dorthin liegen aber noch 63 Kilometer vor mir. Auf den ersten Metern des Anstieges, wieder hinauf auf den Col de Tredudon, verabschiede ich mich von Malcolm und lasse ihn fahren.
Augenblicklich macht sich wieder das Gefühl von Einsamkeit breit. Ich durchlebe ein Wellental aus Empfindungen und Emotionen. Der Körper saugt regelrecht jedes Erlebnis auf. Ich kann mich nicht erinnern, jemals die ersten wärmenden Sonnenstrahlen, so bewusst erlebt zu haben. Ist das das „Leben“? Oder ist die untergehende Sonne, Sinnbild für alles Vergängliche? Je länger ich unterwegs bin, umso näher komme ich dem Gefühl, dass Körper und Seele, eins werden. Ist das alles also doch nur eine Reise zum Ich?
Es mag verrückt erscheinen, über Tage auf einem Rad zu sitzen und über hunderte Kilometer zu fahren, aber vielleicht sind es gerade diese Empfindungen, die man in einem degenerierten Alltag niemals erfährt und für die es sich lohnt, solche Anstrengungen zur Sucht werden zu lassen.
 
Entweder ist die Landschaft hier wirklich so atemberaubend oder es ist die überstandene Finsternis, die mir diese Umgebung besonders gefallen lässt. Ich habe richtig Spaß, nur der Richtfunksender, den ich schon lange vor mir sehe und den höchsten Punkt markiert, will und will nicht näher kommen. Es dauert eine kleine Ewigkeit bis ich zum zweiten Mal am heutigen Tag den Col de Tredudon erreiche.
 
Die Freude auf die Abfahrt wird durch die ersten Regentropfen etwas getrübt. Anfangs versuche ich, in der Hoffnung es handelt sich nur um einen kurzen Schauer, den Regen zu ignorieren, muss aber nach einigen Kilometern akzeptieren, dass ich die Regensachen nicht zum spazieren führen dabei habe.
Eine Brücke, unter der ich mich umziehe, bietet mir Schutz während meines ungewollten Stopps. Die äußeren Umstände lassen Ärger in mir hochkommen und ich muss eine Unausgewogenheit bei mir feststellen. Wahrscheinlich die ersten Anzeichen von Schlafmangel. Es wird also Zeit, nach Carhaix zu kommen.
Nach einer Stunde lässt der Regen nach und auch die Straße ist wieder am trocknen. Ich möchte aber nicht wieder unnötig stehen bleiben und fahre mit dem Regnschutz weiter.



Um 13 Uhr 32 erreiche ich den Kontrollpunkt. Nachdem ich mich aus meinem Karton versorgt habe und den Rest, bestehend aus Haltbarmilch, diversen Riegeln und Bananen an das Personal verteilt habe, marschiere ich hinüber zur Turnhalle in der rund fünfhundert Feldbetten aufgestellt sind. Um diese Zeit, es ist ja früher Nachmittag, sind nur wenige belegt. Das Bett das sich genau in der Mitte des Saales befindet, steuere ich an. Vielleicht nicht unwichtig, wenn man davon ausgeht, dass sich alle kraft in der Mitte polarisiert.

Schon nach wenigen Sekunden und ohne große Konzentration stellt sich ein Schweregefühl
in den Armen ein. Ich spreche mir vor. „Der rechte Arm wird ganz schwer – beide Arme sind ganz schwer, beide Beine sind ganz schwer“. Augenblicklich macht sich ein Gefühl der Schwerelosigkeit bemerkbar und ich bin total entspannt. Diesen Zustand halte ich so lange als möglich aufrecht. Dann kommen meine formelhaften Vorsätze. „Ich schaffe es, ich schaffe es ohne zu schlafen, meine Beine hören erst wieder in Paris zum treten auf „.
Danach folgt die Wärmeübung, Vorsätze, Herzübung, Vorsätze usw..
 
Abschließend erinnere ich mich einer Gedankenreise, die wir in einer unseren letzten Trainingstunden unternahmen. Sie führe uns an einen Strand. Ich stelle mir also vor, weit weg zu sein, ich spaziere einen Strand entlang, die Brandung umspült meine Beine und die Wellen beenden ihre lange Reise über den Ozean. Sie schäumen nochmals auf als wollten sie sich im Sand festkrallen, doch sie müssen sich ihrem Schicksal ergeben und können ihr Element nicht verlassen.
Meine Augen können sich nicht lösen, von diesem sich immer wiederholenden Kreislauf. Der Weg führt mich weiter zu einer kleinen windgeschützten Düne, die von trockenem Gras umgeben ist und ich lege mich langsam in den Sand.
Ich fühle wie mein Körper durch die wohlige Wärme durchflutet wird. Beginnend bei den Beinen steigert sich mein Empfinden bis die Wärme meinen Rücken erreicht und im Nacken ein Kitzeln auslöst.
Ich bin total entspannt und bereit die Sonnenstrahlen zu empfangen. Es ist ein Gefühl, als würde jeder einzelne Sonnenstrahl durch meinen Körper dringen und vom Sand reflektiert werden. Als dann noch eine Brise vom Meer her, meinen Körper kühlt, bin ich in einem Zustand vollkommener Glückseligkeit.
Ich genieße ihn noch einige Minuten und hole mich anschließend wieder an den Ort der Realität zurück.
   
Das angenehme beim autogenem Training ist, dass dies kein Erwachen wie aus einem Traum bedeutet und man sich von der Wirklichkeit betrogen fühlt, sondern ich nehme all die Eindrücke, durch die Entspannung und die formelhaften Vorsätze in einem reaktivierten Körper mit. Die Ziele und meine Aufgabenstellung sehe ich Sonnenklar vor mir und ich habe weder Angst noch Bedenken zu scheitern, sondern einen unbändigen Drang sie zu erfüllen.
 
Ich ziehe mich wieder an und verstaue alles am Rad. Das Wetter hat sich gebessert und es scheint wieder die Sonne. Im vorbeigehen nehme ich mir noch etwas Zeit um einen Kaffee zu trinken und auch dem Croissant kann ich nicht widerstehen. Nach rund eineinhalb Stunden setz ich meine Fahrt fort. Ich bin in einer solchen euphorischen Stimmung, dass mir vorerst die Rötungen am Körper nicht auffallen. Erst als Carhaix hinter mir liegt und ich wieder mit mir alleine bin, bemerke ich meinen fieberähnlichen Zustand.
Ich kann keine Erklärung dafür finden, darum versuch ich nicht daran zu denken und solange meine Leistung nicht darunter leidet, kann ich dieses Problem beiseite schieben.
Da auch mein Puls auf normaler Frequenz läuft, ist mir dieser Umstand keinen Gedanken mehr wert.
 
Erst Wochen später, als ich mit meinem AT Trainier über dieses Phänomen sprach, erfuhr ich, dass ich einen suggestiven Sonnenbrand hatte.
Zur Bestätigung machten wir einen Versuch. Ich legte mir eine Münze auf meinen Handrücken und nur durch Konzentration und der suggerierten Wärme, entstand eine Rötung unterhalb der Münze, die möglicherweise, bei längerer Anstrengung, sich zu einer Brandblase entwickeln hätte können.
 
Nach kurzer Fahrt hole ich eine kleine Gruppe ein, in der auch ein deutscher mitfährt. Endlich wieder Gelegenheit in der Muttersprache zu kommunizieren.
Er ist schon am Montag um 22 Uhr gestartet und sein Ziel ist unter 80 Stunden zu fahren. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich einige Fahrer sogar unterschätzen. Er zum Beispiel sieht noch recht gut aus, ist sich aber nicht sicher ob er es überhaupt schafft.
Dies lässt natürlich sofort wieder Zweifel in mir aufkommen, ob nicht ich derjenige bin, der sich womöglich überschätzt.
Egal ich fühl mich so gut, dass mir das tempo dieser Gruppe viel zu langsam ist. Ich spreche ihm Mut zu und verabschiede mich.
 
Nach rund einer Stunde fährt diese Gruppe wieder an mir vorbei. Ich sitze am Straßenrand und Tränen stehen mir in den Augen. In diesem Augenblick ist für mich das Rennen vorbei.
Durch einen Konzentrationsfehler, ich schaltete große Scheibe, größtes Ritzel, wurde die Kette etwas zu kurz. Unter der enormen Spannung, riss es mir das Hinterrad aus dem Schnellverschluss.
Durch das blockierende Hinterrad machte ich einen Abgang über den Lenker. Alles ging so schnell, dass ich einige Augenblicke brauchte um mich wieder zu sammeln.
Das Schaltwerk war über die Feder nach hinten gezogen und hing verkehrt am Rahmen. Zwei Speichen des Shamal-Hinterrades waren total verbogen und die Felge hatte dadurch einen typischen „Achter“.
  
Ich war auf viele Dinge vorbereitet, aber dies überstieg meine schlimmsten Befürchtungen. Es vergingen endlose Minuten, bis ich wieder klare Gedanken fassen konnte.
Erst als am imaginären Display „Ich schaffe es“ erscheint bin ich wieder handlungsfähig.
 
Nach kurzer Gewalteinwirkung bringe ich das Schaltwerk wieder an seine angestammte Position. Es ist zwar leider verbogen, so dass ich nur drei Gänge schalten kann, aber schön langsam habe ich wieder den Drang mich wieder in Bewegung zu setzen. Die hinteren Bremsen musste ich noch total öffnen, damit der Achter genug Spielraum hat.
 
Glück im Unglück ist, dass es nur noch wenige Kilometer bis nach Loudeac sind, und dort muss es eine Servicestation geben.
Es ist 18.25 Uhr als ich dort ankomme und das ist trotz der Panne ein Schnitt von 23 Km/h für die letzten 76 Kilometer. Gleich bei der Einfahrt in die Kontrollstelle ist der Servicestand. Es bedarf nicht vieler Worte, der Mechaniker erkenn an meinem Gesichtsausdruck und am Zustand des Rades, in welch „lebensbedrohender“ Situation wir uns befinden.
Er schlägt die Hände übern Kopf zusammen und sprudelt etwas auf französisch heraus, was ich absolut nicht verstehe und mein Vertrauen in seine Fähigkeiten etwas ins wanken bringt.
Doch angestachelt von den „Besserwissern“ die sich plötzlich um uns versammelt hatten, bringt er doch noch, mit viel Akzent ein „no Problem“ über die Lippen.



Er bietet mir seinen Stuhl an, auf den er gerade noch gesessen ist und im setzen klopft er mir auf die Schultern und spricht nochmals, wahrscheinlich seine einzigen Worte in Englisch „no Problem“! Ich hoffe, dass sein Talent mit dem Werkzeug größer ist als das Sprachliche.
   
So ist es dann zum Glück auch. Binnen kürzester Zeit hat er die Schaltung ausgebaut, und das Ausfallende am Rahmen wieder gerade gebogen. Als er aber dann versucht mit zwei Zangen das Schaltwerk wieder zu recht zu biegen, kann ich nicht mehr hinsehen.
Mir ist als würde ich jeden Augenblick Blut spritzen sehen und das war zuviel für mein Nervenkostüm.
Ich gehe und erledige noch einige Dinge. Dringend benötige ich auch eine Batterie, denn Tinteniac ist 85 Kilometer entfernt und dort werde ich sicherlich erst nach Einbruch der Nacht ankommen.
 
Um 19.02 Uhr breche ich wieder auf. Immer noch unter Einfluss der letzten Ereignisse und mit einer gewissen Angst was als nächstes geschehen könnte. Es war ein Zeichen, dass auch bei aller Vorbereitung und im Glauben alles bedacht zu haben, dass es bei Unternehmungen solchen Ausmaßes, es keine Perfektion geben kann.
 
Bei Kilometer achthundert unterbricht eine geheime Kontrolle meine gedankenverlorene Fahrt. Danach müssen an den Rädern wieder die Lichter angemacht werden, denn die zweite Nacht bricht unaufhaltsam über mich herein. Eigentlich freue ich mich darüber und bin bestens gelaunt, denn ich weiß, dass nach der Dunkelheit dieser Nacht, am nächsten Tag das Ziel in greifbarer Nähe liegt.



Zehn Minuten vor dreiundzwanzig Uhr treffe ich beim Kontrollpunkt in Tinteniac ein. Diesmal möchte ich die Fehler der ersten Nacht vermeiden. Ich gehe schon mit dem Vorsatz auf ein gemütliches Abendesse in den Speisesaal. Dort treffe ich Malcolm und wir begrüßen uns wie alte Freunde, und wir freuen uns vom ganzen Herzen einander wieder zu sehen.
  
Wir essen gemeinsam und erzählen unsere Erlebnisse der letzten Stunden und dabei vergeht die Zeit viel zu schnell.
Malcolm möchte hier in einige Stunde schlafen und so trennen sich unsere Wege wieder. Kurz vor Mitternacht steige ich wieder aufs Rad und fahre einigen Roten Lichtern nach, die ich in der Ferne sehe. Die Suche nach den Richtungspfeilen erfordert meine ganze Konzentration. Immer wieder kommen aber Zweifel auf ob ich am richtigen Weg bin. Die Rücklichter anderer Fahrer sind dann immer Bestätigung.
Es sind aber nur wenige unterwegs und meist so wie ich Einzelkämpfer, mit sich selbst am meisten beschäftigt.
Oft bin ich so in Gedanken, dass ich Wort und Grußlos an anderen Fahrern vorbeifahre und es nicht registriere.
 
Wie aus dem Nichts taucht der nächste Checkpoint vor mir auf, und die Vorfreude auf einen heißen Kaffee lässt mich die letzten Meter sprinten.



Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass es 2 Uhr 21 ist. Entweder ist die Nacht daran Schuld oder meine Kräfte sind enorm im schwinden. Die letzten 53 Kilometer habe ich nur mit einem Schnitt von 20,2 Km/h zurückgelegt. Aber ich kann es nicht ändern. Ich muss einfach nur den nächsten Kurbeltritt und dann den übernächsten usw.….
 
Es sind nur noch rund 300 Kilometer bis in Ziel und kurz vor 3 Uhr nehme ich diese in Angriff. Es ist eine einfache Rechnung ein 25er Schnitt das sind dann 12 Stunden, dann bleiben noch zwei um unter 60 Stunden zu bleiben. Nur, den 25er bin ich schon lange nicht mehr gefahren. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich natürlich nicht was ich auf diesen 300 Kilometern noch alles erleben würde. Und es war gut so.
 
Schon nach wenigen Minuten holt mich die Monotonie ein. Ich fahre alleine, weit und breit keine anderen Teilnehmer zu sehen. Da bemerke ich, dass ich mit mir selbst spreche. Nicht in Gedanken, nein richtig laut.
Die Nacht wird nun zum Problem. Ich rede mir ein, dass mit den ersten Sonnenstrahlen alles besser und leichter wird, aber die Sonne will und will nicht aufgehen. Die körperlichen Hochs und Tiefs liegen immer nur wenige Sekunden auseinander, ein sprichwörtliches Wechselbad der Gefühle.
Dann endlich im Morgengrauen erreiche ich Villaines. Es ist schon zehn nach sieben. Der Schnitt für die letzte Etappe, 19,5 Km/h. Alle Rechnereien kann ich ab nun unterlassen.
Trotzdem versuche ich alle Dinge so rasch als möglich zu erledigen. Viele Handgriffe sind schon zur Gewohnheit geworden und laufen automatisiert ab. Als ich nach 20 Minuten, dem kürzesten Stopp seit langem, wieder auf dem Rad sitze, bin ich mir aber nicht sicher, doch etwas vergessen zu haben, Irgendwie ist es mir egal.
Für mich ist nur wichtig mein Rad unter dem Hintern zu haben und weiter Richtung Paris zu fahren.
 
Die Freude über die ersten wärmenden Sonnenstrahlen währt nur kurz, denn mit Tagesanbruch begrüßt mich in aller Frische – Gegenwind.
Auch meine Psyche spielt mir immer mehr Streiche. Ich habe immer den Eindruck schon in unmittelbarer Nähe von Paris zu sein, aber die Streckenführung ist so angelegt, dass ich es nicht bis 17 Uhr schaffen soll im Ziel zu sein.
Auch belastet mich der Eindruck immer im Kreis geschickt zu werden.
Aber auch helle Momente gibt es noch. Bei Sonnenaufgang ziehe ich Zwischenresümee. Ich habe weder körperliche Schmerzen noch bin ich der Meinung unter Schlafentzug zu leiden, eigentlich ist alles positiv.
 
Dann aber bemerke ich wieder, dass ich mit mir selbst spreche. Das außergewöhnliche daran ist, dass ich mir zuhöre, mich ausreden lasse, über das gehörte nachdenke und mir dann selbst wieder die Antwort gebe.
Die nächste Stufe ist, dass ich mich bei meinen Zwiegesprächen beobachte und dann fürchterlich über mich lachen muss.
Als nächstes trage ich Meinungsverschiedenheiten mit meiner Mutter aus. Sie versucht mich zu überreden, doch stehen zu bleiben um mich schlafen zu legen. Es dauert einige Kilometer bis ich sie davon überzeuge, dass dies nun nicht möglich ist.
Nachdem diese Angelegenheit durch viel Zureden geklärt ist, will mich mein Körper auf andere Art zum Stehen bleiben überreden. Er signalisiert mir ein dringendes Bedürfnis, etwas aufwendiger als beim nächsten Baum kurz Mal stehen zu bleiben.
In der Nacht saß ich irgendwo zehn Minuten auf der Toilette, aber da ging nichts.
Jetzt bleibe ich stur. Ich nehme das Problem und teile es einer Person zu, mit der Bitte dieses aus der Welt zu schaffen. Als diese Person auch noch mit mir diskutieren möchte, sag ich ihr einfach, dass sie heute in der Nacht ihre Chance hatte und sich nun schleunigst zum Teufel scheren soll.
Die Wirkung war fantastisch. Der Drang, aus medizinischer Sicht vernünftig oder nicht, hat sich wirklich bis am Nachmittag des folgenden Tages erledigt.
Die Methode bewährt sich. Wenn Schwierigkeiten auftreten, jemanden zu teilen und damit fort schicken.
 
 Nur eine Sache bekomme ich nicht los. Immer öfters treten Schmerzen in der Achillessehne
Auf. Ich rede mir zwar ein, dass diese Schmerzen nicht mir gehören, finde aber niemanden dem ich sie übertragen könnte.
Erst Tage später siegt die Medizin über die einzigen Schmerzen, die ich nicht durch meinen Geist behandeln konnte.
 
Hunderteinundvierzig Kilometer vor dem Ziel liegt Mortagne, das ich um 11.25 Uhr erreiche und schon nach 16 Minuten sitze ich wieder im Sattel.
Ich kann das Ziel schon förmlich riechen und dies beflügelt mich. Zwar nur auf den Kontrollpunkten, denn auf der Straße werde ich immer langsamer. Nach wenigen Kilometern muss ich stehen bleiben um meine autogenen Übungen zu machen. Mein Strandspaziergang ist ja schon einen ganzen Tag her. Eine Parkbank am Straßenrand verlockt mich zum Halt.
 
Da die Batterientasche noch immer um meinen Hals hängt und die Stirnlampe auf meinem Helm montiert ist, kann ich diesen nur auf meiner Brust ablegen. Meine Hände umschließen den Helm und so muss es aussehen, als läge ich aufgebahrt danieder.
Ich gönne mir zehn Minuten um mich ein letztes Mal zu motivieren. Ich Schaffe es.
 
Wieder auf dem Rad muss ich feststellen, dass der Geist zwar willig, der Körper aber immer schwächer wird. Ich quäle mich über unzählige Hügel, um danach feststellen zu müssen, dass dieses Szenario nicht enden will und sich nach jedem überwundenen ein Weiterer vor mir aufbaut.



Entweder sind diese Buckeln mir bei der Hinfahrt nicht aufgefallen oder meine Sinne spielen verrückt und machen aus diesen Wellen, schier unüberwindbare Berge. Auch der Wind wird immer stärker oder zumindest hat er immer leichteres Spiel mit mir.
Ich drehe mich öfters um, um nach Fahrern Ausschau zu halten, die mich vielleicht einholen könnten, und ich, in deren Windschatten mitfahren kann.
Aber ich glaube, dass alle die jetzt unterwegs sind, das gleiche Problem haben.
 
Doch dann, taucht plötzlich, wie aus dem Nichts mein „Don Quichotte“ auf. Eine schlaksige Gestallt mit Schlapphut und Turnschuhen, einem Fahrrad, an dem sich kein Originalteil mehr befindet. Nicht gerade das Typische Bild eines Helden, aber ich bin nicht in der Situation Ansprüche zu stellen, sondern muss nehmen was da kommt.
Es fehlt im zwar die Lanze und er kämpft nicht gegen Mühlen, aber wie er sich gegen den Wind stemmt ist unglaublich.
Ich möchte sein Sancho Pancho sein. Die nächsten 30 Kilometer immer das gleiche Bild. Er voraus und ich, keinen Zentimeter verschenkend an seinem Hinterrad. Um 15.32 Uhr erreichen wir Nogent le Roi. Selbst diese Windschattenfahrt hat mich dermaßen überfordert, dass ich kaum vom Rad absteigen kann. „Don Quichotte“ erzählt mir, dass er schon am Montagabend gestartet ist und jede Nacht einige Stunden geschlafen hat, verstehen kann ich aber seine Verfassung trotzdem nicht.
  
Er bietet mir an, nach einer kurzen Pause mit ihm weiter zu fahren. Ich nehme zwar an, weiß aber im selben Augenblick, dass ich dieses Tempo sicherlich nicht durchhalten kann. Ich versuche alles um mich zu regenerieren, aber Hitze, Wind und nun schon fast 59 Stunden Fahrzeit ohne Schlaf fordern ihren Tribut.
Irgendwann wird mir bewusst, dass ich wieder auf dem Rad sitze und die letzten 57 Kilometer in Angriff nehme. Ich versuche im Windschatten fahrt aufzunehmen, aber schon bei der nächsten Steigung verliere ich den Anschluss. Mit jedem Kurbeltritt wird der Abstand größer. Er dreht sich um und möchte auf mich warten, aber ich gebe ihm zu verstehen, dass er sich alleine auf seinen Triumphzug machen muss.
 
Ab diesen Moment agiert nur noch meine Psyche. Es grenz für mich an ein Wunder, und noch heute frage ich mich, woher die Kraft für die Nächste Kurbelumdrehung gekommen ist. Noch nie in meinem Leben hatte ich das Gefühl dieser Leere in mir. Manchmal konnte ich vom Kopf durch das ausgehöhlte Innere bis zu meinen Zehen sehen. Nur eine große leere Hülle.
 
Aber jede vollendete Kurbelumdrehung ist ein Erfolgserlebnis und es gibt nur noch eines woran ich denke. „Ich schaffe es, ich schaff es, ich schaff es! Es steigert sich bis zur Euphorie und ich schrei es gegen den Wind „ICH SCHAFF ES“!!!
 
Ab diesen Moment realisiere ich, dass es wirklich so sein wird. Ich genieße die Umgebung, nehme die Menschen am Straßenrand wieder wahr und stelle mir vor, wie die Zielankunft sein wird.
Vor mir liegen zwar noch einige giftige Anstieg, diese bewältige ich aber in einer Leichtigkeit wie ich sie schon seit Stunden nicht mehr verspürt habe. Die Straßen werden breiter und das Verkehrsaufkommen größer, ein untrügliches Zeichen der Großstadt.
 
Oberste Devise ist nun, auch wenn ich mich schon im Ziel wähne, keinen der Richtungspfeile zu übersehen. Der Weg durch die Vororte erscheint mir dann wieder unendlich. Unzählige Ampeln, Richtungsänderungen wie in einem Irrgarten, alles anscheinend um mich zu täuschen.
Aber plötzlich sind andere Fahrer neben mir, wir gratulieren uns und gemeinsam biegen wir auf den riesigen Greisverkehr vor dem Gymnasium ein. Die Anwesenden begrüßen die Fahrer mit Zurufen und Applaus, viele warten auf ihren persönlichen Helden. Um genau 19 Uhr fahre ich über die kleine Rampe auf den Gehsteig, der in weitrer Folge zum Turnsaal führt, in dem ich nun, den letzten Stempel in meiner Kontrollkarte bekomme.
 
Am Ende sind es 1256 gefahrene Kilometer für die ich genau 62 Stunden und 7 Minuten benötigte. Der Schnitt war somit 20,22 Km/h. Die reine Fahrzeit war 52 Stunden 50 Minuten, was wiederum einen Schnitt von 23,77 Km/h ergibt.
In der Endabrechnung war das der 238. Platz von über 3000 Startern.
 
Nachdem ich alle Formalitäten erledigt habe, möchte ich mich nur irgendwo hinsetzen, egal wo, es muss nur breiter als ein Fahrradsattel sein.
Da ich nicht fähig bin Stufen zu steigen, muss ich mich auf eine der unteren setzen und beobachte von dort aus das rege Treiben in der Halle.
  
Je länger ich sitze umso mehr beklemmt mich ein eigenartiges Gefühl. In meiner Vorstellung lebt der überschäumende Freudentaumel, den ich mir in der lange zeit der Vorbereitung immer vorgegaukelt habe, nichts davon ist aber jetzt Real.
Mir fehlt die Schulter um die ich fallen kann um den Freudentränen freien lauf zu lassen. Ich verliere mich in der Weite des Raumes. Meine Gefühle, die keinen Ausweg aus meinem Körper finden werden zu einem dicken Kloß und bleiben als unerklärliche Schmerzen in mir zurück.
Durch meine innere Ohnmacht bin ich wie gelähmt und meiner Gedankenfatamorgana, hilflos ausgeliefert. Ich stehe vor einem tiefen Abgrund und sehe kein Ziel mehr vor Augen. Ich bin einsam und verlassen und fühle mich wie auf der

"Schattenseite des Paradieses."
 
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir einen Traum verwirklicht habe oder, ob sich die Wirklichkeit in einen Traum verwandelt hat.

 
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